You are currently viewing Der Vesuv – zwischen Sehnsuchtsort und Ödnis

Zwar bin ich keine Freundin von touristischen Hotspots, aber wenn einer am Wegesrand liegt, zieht es mich trotz allem Rummel hin. Jürg versteht mich nicht. Er findet Vulkane zwar interessant, den Vesuv im Besonderen aber ausgelutscht und langweilig. Er würde viel lieber unbekannte Orte erkunden.

Aber ich kann nicht widerstehen: Seit ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, bin ich wie gefesselt: Vor der Rückreise in die Schweiz möchte ich den Drachen, der dösend über den Golf von Neapel wacht, unbedingt besteigen und von oben in seinen Schlund schauen. Die Wanderkarte zeigt verschlungene Pfade an seinen Hängen – zwei oder drei führen vom Meeresspiegel bis hinauf zum Krater.

Ich kann Jürg überzeugen, dass wir eine Entdeckungstour machen.

Autos müssen nicht unbedingt fahren, sie können auch den Fuss des Vesuv dekorieren.

Lustlos tritt er in die Pedale. Einfache Siedlungen, eine Kiesgrube und Weinberge gleiten an uns vorbei. Je höher wir kommen, desto weniger Häuser und desto wilder wird die Natur. Erst Unterholz, dann lichte Nadelwälder. Die schwarze Vukanerde absorbiert die Abendsonne. Alles wirkt fremd und verzaubernd. Hier möchte ich bleiben. Möchte die ganze Mondlandschaft erkunden und zusehen, wie das nahe Meer die Sonne verschluckt.

Betörend: Der Golf von Neapel

Jürgs Laune bessert sich vorübergehend. Wir erkunden einige Lost Places und die kleinen Trails machen Spass: Die Vulkanerde ist wie ein Kugellager, rund und glatt. Das ist technisch super. Wir sind wieder gefordert, das macht es spannend. Doch Jürgs «Krüppeli» will nicht. Die Schaltung ist defekt und zu allem Überfluss reisst auch noch die Kette.

Die Stimmung ist im Keller. Ich lege mich in die Sonne und versuche, mich nicht aufzuregen. Jürg ärgert sich und flickt sein «Krüppeli».

Ad hoc schnell die Kette wieder zusammenschnurpfen.

In der Nacht träume ich von dem schlafenden Drachen. Ich streichle seine Lederhaut – sie ist warm. Meine Hand gräbt sich ein wie in ein dichtes Fell. Ich spüre seinen Puls und eine mütterliche Geborgenheit.

Ich ziehe los – ohne Jürg.

Schon nach wenigen Höhenmetern ist der Weg durch ein einbruchsicheres Tor versperrt, nur für Leute, die im Park Unterhaltsarbeiten durchführen.

Ein Blick auf die Karte zeigt einen zweiten Wanderweg auf der Rückseite des Bergs. Aber ich bezweifle, dass er offen ist und beschliesse deshalb, die Hauptstrasse hinaufzuradeln. Sie gleicht einer gut asphaltierten Passstrasse, etwas langweilig. Camper, Busse und Motorräder ziehen an mir vorbei und verpesten die sonst so klare Luft. Einige Mountainbiker kommen mir entgegen. Sie winken. Das motiviert mich, weiter zu radeln.

Der Tourismusstrom bricht am Vesuv auch im November nicht ab.

Je höher sich die Strasse schraubt, desto überwältigender wird die Aussicht. Auf der einen Seite des Golfes erstreckt sich die Hafenstadt Neapel. Kaum zu glauben, dass auf diesem Fleckchen Erde fast eine Million Menschen leben.

Auf der anderen Seite lässt die Silhouette der Amalfiküste die Schönheit des Unesco-Weltkulturerbes erahnen: Alles ist so nah. Die Zivilisation und die Wildheit der Berge. Nur das Tyrrhenische Meer hält die Landschaft zusammen.

Im November ist Nebensaison, wie das wohl in der Hochsaison aussieht?

Direkt unterhalb des Besucherzentrums befindet sich ein grosser Parkplatz. Pendelbusse bringen die Besucher hinauf zum Eingangstor. Ich fahre lässig und gipfelsicher daran vorbei.

Doch kurz darauf werde ich, wie viele andere auch, enttäuscht: Es gibt Besuchszeiten und für heute ist schon Schluss. Im Winter schliesst der Park um 15 Uhr, es ist zehn nach. Der Pförtner sitzt gelangweilt auf dem Drehkreuz und schaut einen Netflix-Film. Ich will verhandeln, meine Bergerfahrung ins Spiel bringen. Doch er bleibt stur.

Beim Drehkreuz ist kein Durchkommen: Der Wärter hat kein Musikgehör.

Der Krater ist zum Greifen nah, aber mit einem Zaun fein säuberlich abgeriegelt, rundherum nichts als Gestrüpp.

Vom Aushang erfahre ich, dass man sich ausserdem ein Ticket hätte kaufen müssen. Die Zugangskontrolle sei erst mit der Coronapandemie eingeführt worden und diese werde nun wegen des Übertourismus beibehalten.

Übertourismus.

Ein Wort, das es regelmässig in die Schlagzeilen schafft: In Barcelona streiken deshalb die Bewohner, Luzern schränkt Airbnb ein und in Italien zahlt man Eintritt. Aber wie erste Erfahrungen in Venedig zeigen, sinken die Besucherzahlen trotz Eintrittsgebühren nicht, dafür füllen sich die Kassen.

Am Vesuv ist es vielleicht anders. Es gibt ungleich wie in Venedig nur einen einzigen Zugang. Auch ist das Eingangsticket an einen Time Slot gebunden. Die Besucherströme lassen sich so besser steuern als in Venedig. Damit wird dem Vulkan auch Exklusivität verliehen. Aus Sicht der Touristiker sicherlich ein guter Entscheid. Aber der soziale Gedanken ist umstritten: Bald können sich nur noch Gutverdiener solche Naturerlebnisse leisten. 

Allerdings fehlen mir öffentliche Hinweise für Ticketgebühr und Öffnungszeiten. Beispielsweise entlang der Passstrasse. Bis zu oberst war ich ahnungslos.

Und es ärgert mich besonders, dass ich nur zehn Minuten zu spät war. Überhaupt hätte ich es bis Sonnenuntergang locker auf den Krater und zurück geschafft. Aber wenn ich mir die Besucher in Adiletten ansehe, kann ich nachvollziehen, dass man mit den Schliessungszeiten strikt ist. So kommt man nächtlichen Rettungsaktionen zuvor. 

Ich sitze am Eingang zum Vesuv und bin frustriert.

Souveniers vom Vesuv: Wo die Armbänder wohl hergestellt worden sind?

Was macht eine Frau, wenn sie frustriert ist? Sie geht einkaufen. Ich bediene mich ausgiebig an den vier oder fünf Marktständen mit Armkettchen aus Vulkangestein.

Ich bezweifle, dass sie in Italien hergestellt wurden, denn es sind die gleichen, die ich später im Loeb für 12 Franken mit der Aufschrift Made in China entdecke. Hier kosten sie nur 4 Euro.

Freiluftkunst auf dem Weg zum Vesuv.

Es wird kalt. In Daunenjacke und Handschuhen sause ich hinunter, vorbei an Steinskulpturen, die im Abendlicht wie kleine Gesichtsperlen wirken. Vorbei an Rollern und Vespas mit Pärchen, die sich weiter oben eng umschlungen auf Felsen setzen und sehnsüchtig auf die Abendstimmung warten werden.

Am Abend söhne mich mit allem wieder aus: Ich treffe auf einen gut gelaunten Jürg. Wir sonnen uns im letzten Abendlicht, trinken einen Spritz und und verdrücken eine Pizza Vesuvio. Ich erzähle ein wenig.

Jürg sagt: «Zum Glück bin ich nicht mitgekommen.»

Ich denke: «Zum Glück hab ich das alles erlebt.»

Tipps zum Vesuv

  • Die Tickets zum Krater vom Vesuv kosten 10 Euro. Sie müssen im Voraus online auf der Website des Parks gebucht werden, auch in der Zwischensaison.
  • Der Besuch ist an ein Zeitfenster gebunden.
  • Vlogger Axel aus Deutschland hat dieselben Erfahrung gemacht, wie ich. Seine Eindrücke seht ihr in diesem Video.
  • Im folgenden Zip findest du die GPX-Daten zur zauberhaften Entdeckertour ab Boscoreale.
  • Die Passstrasse beginnt in Ercolano. An der Route gibt es einige Aussichtsrestaurants.
  •  Möchtest du nur die Aussicht über den Golf von Neapel geniessen? Neben der Pizzeria Regine gibt es einen grossen Parkplatz und schöne Steinformationen, wo sich die italienischen Pärchen zum romantischen Date treffen.