You are currently viewing Signora Maria und die andere Zeitrechnung in Basilika

Im Bergdorf Cirigliano stellen wir unsere Bikes an die Bänke eines kleinen Parks. Er ist dem Pontifex meiner Jugend gewidmet, dem heiligen Johannes Paul II, dessen Osterwünsche ich im Fernseher verfolgte. Ich war fasziniert von den fremd klingenden Worten und wartete gespannt auf die deutschen Phrasen.

Die alten Bäume und die Steinhäuser, die sich eng an den Park und die Gassen schmiegen, werfen an diesem Novembertag frostige Schatten. Für unser Picknick suchen wir nach ein bisschen Mittagssonne und eine Aussicht auf das breite Tal, aus dem wir kommen.

Picknick vor einem der vielen verlassenen Häuser in Cirigliano.

Plötzlich steht eine ältere Frau neben uns. Ich habe sie nicht bemerkt und erschrecke sogar ein wenig. Vielleicht liegt es an den Filzpantoffeln oder an der wadenlangen Schürze, die an mein Grosi erinnert. Sie muss aus einem der Nachbarhäuser gekommen sein. Nun lächelt uns an und sagt in gebrochenem Deutsch: «Hallo» – und nach einer Pause: «Seid ihr aus Deutschland?»

Oh, das ist eine Überraschung. Die zierliche Italienerin mit der kecken Frisur spricht Deutsch. «Wir sind aus der Schweiz», antworte ich.

«Dachte ich es mir», sagt sie verschmitzt. Den Schweizer Dialekt erkenne sie doch! Ein kleiner Triumph blitzt in ihre wachen Augen. Sie habe ein paar Jahre lang in der Schweiz gelebt, sagt sie und kramt in ihren Erinnerungen.

Maria, so heisst die 80-Jährige, zählt ein paar Orte auf, darunter Zug, Winterthur und Schaffhausen. Auch die Hauptstadt fällt ihr wieder ein.

Was sie dort gemacht habe, will ich wissen. Sie sei in den 1970er-Jahren als Au-Pair-Mädchen nach Zug gekommen. Später habe sie im Sulzer-Werk in Winterthur gearbeitet. Doch nach sechs Jahren sei sie wieder in ihr Heimatdorf Cirigliano zurückgekehrt. Wir plaudern noch ein wenig über dies und das, dann wünscht sie uns einen guten Appetit und kehrt in ihr Häuschen zurück.

Im tiefen Mezzogiorno: Hinterhofgespräch auf Deutsch.

Die Menschen in den Bergen suchen den Kontakt zu uns: Bei einem Gespräch in Accettura erfahren wir, dass in den 1960er- und 1970er-Jahren auch andere Süditalienerinnen und Süditaliener im Norden Arbeit gesucht haben. Eine ältere Dame erzählt in fliessendem Deutsch, dass sie einige Jahre in Ravensburg gelebt habe. Jürg staunt: «Jetzt haben Sie 40 Jahre kein Deutsch gesprochen und sprechen immer noch so gut!» Sie lächelt: «Neinein». Sie habe noch Verwandte in Süddeutschland. Ihr Bruder und ein Schwager seien geblieben und hätten deutsche Frauen geheiratet. Sie sei zwar in die lukanischen Berge zurückgekehrt, besuche ihre Familie aber noch regelmässig.

Jürg und der Krämer: Nur die Kulisse will nicht recht zum Gesprächstoff passen.

Die Tradition, für den Lebensunterhalt wegzuziehen, ist geblieben.

Das beginnt so: Weil die kleinen Provinzschulen geschlossen wurden, werden die Kinder in grössere Schulen im Zentrum gefahren. Zum Studieren ziehen sie dann in den wohlhabenderen Norden, wo sie auch Freunde und Arbeit finden. Die gebirgige Basilikata bleibt eine weihnachtliche Verpflichtung, vielleicht ein Sehnsuchtsort und später möglicherweise ein Traum, denn in der Realität bietet sie zu wenig Berufschancen, Dynamik und Möglichkeiten für ein modernes Leben. Spätestens, wenn die Eltern sterben, gibt es keinen Grund mehr, zurückzukehren.

Beim Kraulen von Olivia dreht die Zeit rückwärts.

Noch sind die meisten Häuser gepflegt und hübsch anzuschauen, aber viele sind verwaist. Jedes fünfte steht zum Verkauf, die Preise sind im Keller.

Nicht nur das Leben strömt in den prosperierenden Norden, sondern auch die Energie. So radeln wir einen ganzen Tag lang durch einen Windpark, mit mehreren Dutzend Rotoren. Sie pfeifen turmhoch über unseren Köpfen. Es ist eine seltsame Vorstellung, dass der Strom dann in einem Luzerner Badezimmer aus einer Steckdose fliesst und einen Föhn zum Surren bringt.

Aber im Vergleich zum touristischen Apulien gefällt uns die Basilikata tausendmal besser. Uns fasziniert, was die jungen Einheimischen abschreckt: die Zeit läuft hier rückwärts.

Jeder Tag scheint mir tausend Stunden zu haben. Ich sitze vor dem Laden und streichele ohne Eile das struppige Fell von Boxermischling Olivia. Sie räkelt sich in ihrem Häkelmantel, bis sie wie eine Katze zu schnurren beginnt. Ich denke an meine Tochter Olivia, die zu Hause an ihrer Maturaarbeit sitzt, und wünsche mir, sie wäre hier. Ich schaue Jürg zu, wie er sich mit dem Lebensmittelhändler über Erdbeben, die Kirche und andere Katastrophen unterhält. Dann gehe ich zurück in den Laden, weil mir eingefallen ist, dass ich doch noch etwas brauche.

Kleine Kapellen und Grotten gibt es alle paar hundert Meter.

Ich bin erstaunt, wie erfolgreich die konservative Kirche hier immer noch ist: Am Wegesrand stehen hübsche, gepflegte Steingrotten und Kapellen mit Marienbildern, Kerzen und Plastikblumen. In den romanischen und barocken Kirchen predigt der Pfarrer noch vor vollen Bänken. Gerne hätte ich mich mit jemandem über die neuesten Entwicklungen unterhalten, aber die Gelegenheit ergab sich nicht.

Auch das Bild der rauchenden Männer, die sich auf dem Dorfplatz zu einem Schwätzchen treffen, hat sich seit meiner ersten Italienreise vor fast 40 Jahren nicht verändert. Wenn wir mit unseren Bikes ins Dorf fahren, sorgen wir für Gesprächsstoff. Schon von weitem sieht man uns unser Fremdsein an. Wir werden diskret angestarrt. Dann fühlen wir uns ein bisschen wie Schauspieler in ihrer Reality-Soap.

Wann kehrt das Leben in die Berge zurück? Nur im Sommer, wenn es in den nördlichen Grossstädten heiss wird, schlägt ein anderer Puls. Die Städter sehnen sich nach ein bisschen Frische und Ruhe. Dann mieten sich Musiker, Künstler und Schriftsteller günstige Wohnungen und ein überschaubares Dorfleben, um an ihren Werken zu arbeiten und nach dem «Ferragosto» gestärkt in ihre Ateliers in die brummenden Städte zurückzukehren.

Auf dem Weg zu unserer Unterkunft in Castelmezzano zeigt uns unser Host Pierfrancesco auch noch das Haus seiner Grossmutter. Schaut im Video selbst hinter die Tür. Für unseren neuen Blog-Abonnenten aus Nordamerika extra auf Englisch.