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Alltag & Kurkuma

Die Vögel zwitschern den Morgen wach. Irgendwo bimmeln Kuhglocken. Ein Flugzeug zeichnet Streifen gegen Süden.

Sie öffnet die Tür und saugt gesunde Bergluft ein.

Ein bärtiger Mann kommt hinter dem Haus hervor, legt sein Werkzeug behutsam gegen den Lattenzaun. Seine Bewegungen sind lautlos, jede Regung achtsam, fast orchestriert.

Er sucht in seinen Taschen nach etwas. Er sucht noch im Schopf nebenan. Er scheint gefunden zu haben, wonach er gesucht hat und nimmt nun die Sense.

Seine Hände umschliessen das Holz, vom vielen Brauchen schwielig geworden, erzählen sie die Geschichte von Schweiss, stotzigen Hängen und Blasen.

Als die Haut noch zart gewesen war, muss sie öfter aufgesprungen sein, denkt sie.

Mit leicht gekrümmtem Rücken und baren Füssen geht er über die nachtkalte Verbundsteinbelag. Er zögert, als er sie sieht. «Guten Morgen», sagt er dann.

Sie lässt die Kaffeetasse sinken. Ihre Stimme grüsst zurück, sie ist noch rau. Er sagt, er werde nun hinter dem Haus leise mähen.

Leise.

Wie er das Wort betont, es gefällt ihr.

Sie fragt, weshalb er leise mähe. Er meint, er mähe mit der Sense, das sei leiser als mit dem Motormäher, damit störe er niemanden.

Ein aussergewöhnliches Motiv, denkt sie. So viel Mühe, nur um Nachbarn und Touristen zu schonen.

Der eigentliche Grund liege aber woanders, räumt er nach einer kurzen Pause ein. Mit der Sense mähe er weniger Gras als mit dem Motormäher. «Ich war nicht mehr im Stande, das Heu zeitig einzubringen, es war zu viel», sagt er.

Das leuchtet ihr ein.

Sie trinkt einen Schluck Kaffee.

Er scheint Vertrauen gefasst zu haben, kommt ins Reden, es ist jetzt flüssiger als zuvor: Er mähe für seine Geissen. Er habe eine spezielle Gattung, eine Kreuzung aus Steinbock und Hausziege, das sei selten. 

Den Fachbegriff Steinbockbastard braucht er nicht, wird ihr später durch den Kopf gehen, nachdem sie die Rasse gegoogelt haben wird.

Er erzählt, wie er im Frühling dreizehn Tier auf die Alp getrieben habe, von fernem Glockengebimmel, wenn er sie im Sommer besuche; und vom Salz, das er ihnen mitbringe.

«Wenn ich sie rufe, kommen sie angerannt und leckten das Salz aus meiner Hand. Sie drängeln und treten mir auf die Füsse.» Wie wir Menschen, denkt sie, wenn es etwas umsonst gibt. Weil er weiter erzählt, bleibt keine Zeit für eigene Gedanken. 

Von Verlust.

Vom Wolf. Letzthin habe er nur neun statt dreizehn Ziegen auf der Alp angetroffen. Er gehe trotzdem nicht vom Schlimmsten aus. Er hoffe.

Sein Gesicht verschliesst sich und er schaut Richtung Matte. Aber jetzt müsse er die Wiese mähen.

Er geht an ihr vorbei, etwas gebückter als zuvor, wie ihr scheint, umrundet das Haus und setzt die Sense an. Tsch, tsch, tsch.

Sie sieht ihm ein wenig zu, der Duft des geschnittenen Grases beruhigt sie. Sie deutet es instinktiv als Zeichen einer stabilen Wetterlage. Ihr ist bewusst, dass er ein Warnsignal vor Fressfeinden für benachbarte Pflanzen ist und schämt sich deshalb für ihre Gefühle.

Halm um Halm, alles fällt, die Ecken mäht er mit präziser Genauigkeit und verteilt das geschnittene Gras auf der Weide, damit es gleichmässig trocknen kann.

Sie holt noch einen Kaffee, lehnt sich an einen Baum, schaut dem Gras beim Trockenen zu und denkt an die Ziegen, die im kommenden Winter daran knabbern werden. Neun, zehn, vielleicht mehr.