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Im Zug

Der Zugwagon von Bern nach Zweisimmen ist halb leer. Ich habe die Kopfhörer auf und lausche der Jazztrompete von Warren Vaché. Die Gedanken fliegen. Ich träume von den Farben des Schnees in den Morgenstunden. Am folgenden Tag werde ich ihn betrachten auf der Tourenski aufs Steinmandli.

In Thun steigt eine Frau zu; sie setzt sich in die Sitzgruppe neben mir. Der Zug ruckelt, als er losfährt und ich tauche gedanklich wieder ab. Irgendwann verändert sich die Stimmung. Ich sehe mich um und bemerke, dass die Frau ins Telefon spricht. Ich horche. Portugiesisch. Ihre Stimme schwankt. Ob es was Emotionales ist? Das geht mich alles nichts an. Ich drehe die Musik lauter und versuche mich zu entspannen.

Nach einer Weile guck ich trotzdem wieder. Sie schaut aus dem Fenster – eine gepflegte Frau in den Fünfzigern, das Haar wellt über ihre Schultern – sie beben. Weint sie?

Ich schiebe den Kopfhörer weg. Das Weinen gleicht dem in der Kirchenbank, wenn man Abschied nimmt. Es kommt vom Innersten, ist aber trotz allem kontrolliert – man will sich ja nicht blamieren.

Ich halte inne. Sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht, zärtlich, als ob sei sich selbst trösten wollte.

Ich reiche ihr ein Taschentuch und schweige. Sie schluchzt. Dreht sich weg. Ich warte, weiss nicht wohin mit meinem Blick.

Sie strafft die Schultern, wendet sich mir zu und schaut mir für einen Moment in die Augen. «Meine Mutter ist gestorben.» Ich kann die Worte nicht fassen. Ob ich ihr Englisch mit dem portugiesischen Akzent richtig interpretiert habe? Ich frage sicherheitshalber nach. Ich hätte sie schon richtig verstanden, sagt sie, sie habe die Nachricht soeben erhalten. Oje. Das tue mir leid, sage ich. Das müsse ja furchtbar sein. «Ja und nein. Sie war 88. Sie ist einfach eingeschlafen. Es fühlt sich an, als wäre es in Ordnung.» Sie tupft sich die Augen trocken.

Dann hält sie inne und schaut wieder zum Fenster hinaus. Ein paar Minuten verstreichen. Schliesslich wendet sie sich mir wieder zu. Und beginnt ihre Geschichte zu erzählen: «Ich habe jung geheirate. Als ich mit meinem Sohn schwanger geworden bin. Meinen Mann liebte ich nicht, aber ich gab ihm das Ja-Wort. Ich wollte meinen Eltern einen Gefallen tun. Man erwartet das ja schliesslich von uns, nicht wahr? Ich meine, dass man heiratet, wenn man ein Kind kriegt.»

Ich bin erstaunt. Weshalb erzählt sie von ihrem Mann, wenn sie doch die Mutter verloren hat? Trotzdem berührt mich ihre Worte. Ich nicke einfach.

«Aber ich habe mich früh wieder von meinem Mann getrennt. Unser Sohn wuchs bei mir auf. Wir hatten es immer gut zusammen. Er ist wunderbar geworden. Wirklich. Schon seit zwanzig Jahren wohne ich nun ohne Partner. Alleine leben ist wunderbar. Ich habe mich nie einsam gefühlt.»

Sie schaut mich an. Ich weiss nicht, was ich erwidern soll. Noch bevor ich Worte finde, fährt sie fort: «Ich arbeitete immer. Als gelernte Schiffsköchin war ich in diversen Restaurants. Und im Mai vergangenen Jahres kam ich erstmals in die Schweiz. Ich arbeitete eine Sommersaison lang am Thunersee in einem Restaurant. Danach ging ich zurück nach Portugal. Die paar Monate zu Hause waren schön. Ich war oft bei meiner kranken Mutter. Seit ein paar Tagen bin ich nun wieder in der Schweiz. Ich habe eine Stelle gefunden im Pays-d’Enhaut. Heute ist das Probearbeiten. Und jetzt …» Ihre Stimme bricht. Sie schnäuzt sich die Nase.

«Sie war eine gute Mutter.» Wieder macht sie eine Pause.

«Jetzt ist sie einfach weg. Ich werde sie nie mehr sehen, nie mehr riechen oder umarmen … Sie müssen wissen, ich glaube nicht an Gott, nicht an ein Leben nach dem Tod. Jetzt ist sie also einfach weg. Meine Verwandten in Portugal werden sie begraben, während ich hier bin. Alles, was bleibt, ist bloss die Erinnerung. Nun ja, die Erinnerung an sie. Mein Vater lebt natürlich noch aber, er geht bestimmt auch bald.»

Sie seufzt.

«Sie müssen wissen», sagt sie, «mein Vater hat meine Mutter geliebt, er hat sie verehrt. Sie war der Fels in der Brandung. Wegen ihr zog er sogar ins Altersheim, obwohl er noch nicht gebrechlich gewesen war. Aber meine Mutter war die Hausfrau. Und als die Demenz schlimm wurde, verlernte sie das Kochen. Und mein Vater kann nicht kochen. Also ist er mit ihr ins Altersheim gezogen. Aber jetzt! Jetzt wird er bald gehen, er kann nämlich nicht ohne meine Mutter leben. Niemals.»

«In Kürze treffen wir in Zweisimmen ein», tönt es aus den Lautsprechern, «Endbahnhof, bitte steigen Sie aus.»

Die Stimme durchtrennt den dünnen Faden, der sich zwischen dieser Frau und mir gesponnnen hat. Der zauberhafte Augenblick löst sich im Kreischen der Bremsen auf. Wir steigen aus dem Zug und als wir uns ein letztes Mal ansehen, sehe ich den Schmerz ihrem Blick. Die Zugfahrt mag vorüber sein, ihr Abschiednehmen aber hat erst begonnen.