Ich lenke meinen silbergrauen Peugeot entlang der gewundenen Strasse irgendwo im Berner Oberland. Wo ist egal, es könnte überall sein. Die Dämmerung legt sich über die Landschaft. Sie dampft. Vom frühabendlichen Gewitter frisch gewaschen.
Die Strecke fuhr ich Zighundert mal, sie pulsiert in meinem Blut. Mein Silbergrauer zieht an, fährt elegant durch die engen Kurven. Ein Auto klebt an meinem Heck.
Auf der nächsten Geraden setzt es zum Überholen an. Ein weisser Combi, unauffällig, aber schnell. Der soll doch davonzischen, echt. Ein Blick auf den Tachometer verrät 90 Stundenkilometer. Puah. Ich fahre zehn zu schnell und der überholt mich auch noch. Total lässig und pfeilschnell. Der knackt bestimmt die 100er-Marke. Hey!
Ich müsste ja lachen, wenn der geblitzt würde, der bekäme bestimmt ein grosses Knöllchen. Vielleicht dürfte er den Scheck abgeben oder ein paar Tage absitzen. Weshalb fährt der so rasant? Will er den Motor testen? Eine Wette gewinnen? Oder einfach fünf Minuten eher zu Hause sein? Aber was sind schon fünf Minuten im Vergleich zu … Ja zu was? Einem Arbeitstag? Einer Netflix-Serie? Einer Social-Media-Session? Ein Wimpernschlag.
Ich beschleunige nach einer weiteren Kurve, doch dahinter alarmieren mich Bremslichter – instinktiv stehe ich in die Klötze. Vor mir fährt doch glatt der polierte Weisse. Ein Wohnmobil vor ihm hat seinen Fahrfluss unterbrochen. So kriecht er nun gemächlich und bestimmt genervt hinter ihm her. «Hehe, bist nicht weit gekommen. Hast nichts gewonnen, ausser viel Benzin in die Luft zu pumpen.» Kaum fertiggedacht, setzt er den Blinker wieder, zieht über die gezogene Linie und steuert in die nächste Kurve. Wenn bloss keiner entgegenkommt! Ich möchte sehen, was passiert, aber das Wohnmobil – gross wie ein Elefant – verstellt meine Sicht.
Ist schon recht, gaffen sollte sowieso verboten sein. Also stelle ich die Beatles lauter und ich beginne zu singen: «Sun, Sun, Sun, here it comes …» Bei der nächsten Kreuzung biegt der Wohnwagen ab, mein Silbergrauer bekommt wieder Schwung, bis zur nächsten Kurve, wo Rücklichter wieder Ferrari-rot leuchten. Der Weisse wartet an einer Ampel. Wie oft bloss werd ich diesen Überholenden noch einholen? Werden wir nun einer Handorgel gleich ins Gebirge ziehen?
Während ich warte, schweifen meine Gedanken ab. Ich stelle mir diesen Raser vor, wie er da vorne sitzt in einem Wagen und sich überlegt, wie er all die Wohnwagen und Ampeln von der Strasse bringt. Vielleicht führt er aufrührerische Gedanken. Vielleicht organisiert er bald eine Demonstration, argumentierte, dass Mobilität bloss noch Schikane sei – und ein willkommener Geldesel für die Kantons- und Bundeskasse.
Auf der Demo würde er sich mit Gleichgesinnten verbünden und sie später im Darknet wieder sehen. Sie würden Geschwindigkeitsmessgeräte sabotieren und Tage des Schnellfahrens organisieren. Sie würden eine Partei gründen, für günstigen Treibstoff und freie Strassen politisieren. Sie würden Plakate aufhängen auf denen steht: «Alle Strassen den Mobilisten», «Nein zur Geschwindigkeitszäsur» und «Langsamfahrer raus!». Dann würden sie die Wahlen gewinnen und ins Bundeshaus einziehen. Sie würden Alte und Kinder von der Strasse verbannen, den Schwerverkehr auf die Schiene verlegen …
Die Ampel stellt auf grün, das reisst mich aus den Gedanken, denn ich höre ein Quietschen und rieche Gummi. Noch bevor ich den Motor starten kann, lässt der weisse Pfeil die vier Automobilisten vor ihm hinter sich. Also hab ich doch recht, eine Strassenrebellion.