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Zwölf Tipps gegen Nebenkoller im Mittelland.
  • Beitrag veröffentlicht:04.01.23
  • Beitrags-Kategorie:Nebeltagebuch

Hier zwölf von mir persönlich geprüfte Tipps, die garantiert gegen Nebelkoller helfen.

1: Halte Ausschau nach farbigen Mützen und führe ein Mützentagebuch: Welche Farben hast du entdeckt? Wo hast du sie gesehen? Wer hat sie getragen?

2: Schenke deiner Nachbarin ein Linzer Törtchen, das du selbst gebacken hast.

3: Verlagere dein Büro für ein paar Stunden in das Quartierkaffee, dort schreiben sich die E-Mails schneller und der Kaffee schmeckt besser.

4: Wandere nachts und fotografiere Leuchten und Lichter, die im Nebel diffus leuchten. Drucke sie aus und gestalte eine Collage.

5: Stell dir vor, du sähst den Nachthimmel. Welche Sterne würden jetzt leuchten?

6: Wärst du ein Nebeltropfen, worüber würdest du mit deinen Nebeltropfennachbarn reden?

7: Pack die Schneeschuhe ein und fahr im Zug in die Berge.

8: Suche deinen Tintenfüller aus der Schulzeit und schreibe deiner Freundin einen Brief.

9: Gib deinen Zimmerpflanzen Namen und sprich mit ihnen.

10: Nimm den nächsten Bus, steig an der fünften Haltestelle aus und folge einer Person, die einen grünen Mantel trägt. Nach fünfzig Schritten betrittst du den Laden, der rechts von dir liegt. Viel Vergnügen beim Entdecken.

11: Lade deine Freunde an deinen Lieblingsplatz im Wald ein. Entfach ein Feuer. Jeder bringt ein Getränk oder etwas zum Knabbern mit.

12: Und wenn alles nichts nützt: Gönn dir einen herzhaften Fondue-Plausch in der Gstaader Gondel im Restaurant Marzilibrücke in Bern.

22.12.2022

Die Angst vor dem Nebel hat mich ein viertel Jahrhundert in den sonnigen Bergen gehalten. Mitte Juli aber zog ich trotzdem ins Mittelland, bei 30 Grad. Ich blendete meine Angst aus, schwamm in der Aare und entdeckte wandernd mein neues Zuhause. Aber heute morgen! Ohne Vorankündigung hatten sich Nebelschwaden in meinen Garten geschlichen. Als ich sie entdeckte, wurde mir weh: Würde der Nebel liegenbleiben bis die Märzenglocken spriessen? Und was würde mit meinem Gemüt geschehen?  Was würde ich aus dem Nebel machen? Ich beschloss, diesen Fragen in einem experimentellen Tagebuch zu begegnen.

 

#zehneinhalb
4/1/23 Frühling. In der Hauptstadt ist es Frühling geworden, ohne dass der Winter wirklich Einzug hielt. Die ersten Narzissen stossen, Forsythien blühen und eine gütige Frühlingswärme zieht durch die Strassen. Ich mag den Geruch der Erde, die dampft und die Härte des Winterfrostes verliert.

 

#neun
27/11/22 Manifest der Farben. Ich beobachte, wie die Stadtbewohner ihre Kleidung der Jahreszeit anpassen. Im Sommer sieht man Geblümtes, Türkisfarbenes und Hippie-Flipflops. Mit dem Herbst, dem Regen und den bedrohlichen Wolken hoch über der Stadt kommen auch die düsteren Kleider aus den Schränken. Es ist, als ob sie sich einen neuen Platz suchten und die Sommerkleidchen in die Ecke drängten.

Die Bernerinnen und Berner gehorchen.

Mit den langen Nächten, dem Grau der Tage und der Trauerkleidung an unseren Körpern verliert sich auch die Fröhlichkeit. Im Bus. In der Migros. Beim Coiffeur. Die Spontaneität des Sommers geht verloren. Wer wirft dem anderen noch einen freundlichen Blick zu? Wo ist die Alltagskomik geblieben? Die Momente im Bus, in denen aus einem unerfindlichen Grund pötzlich alle schmunzeln? Oder sehen wir sie bloss nicht mehr, weil die schwere Nacht auf unseren Schultern liegt?

Ich schaue noch einmal genauer hin und bemerke, wie sich die Menschen seltener den Vortritt lassen und mürrischer auf Fragen reagieren. Auch die Smartphones sind uns wichtiger als an Sommertagen. Wir überdecken die Alltagsgedanken mit Soaps und Animes. damit begraben wir die Leichtigkeit, die wir im Sommer ins Aussen tragen.

Der Sommer aber beweist: Wir könnten anders! Wir könnten die Fröhlichkeit in der Stadt ausleben. Dann, wenn alle mit bunten Badetüchern durch Bern spazieren, um eine Abkühlung in der Aare zu geniessen. Man sitzt am Ufer, unterhält sich mit Freunden, begegnet Bekannten und Fremden. Alles wird farbig, die Gespräche und die Getränke. Wir spielen und spazieren, wir flanieren und feiern und wir lachen.

Ein wenig Fröhlichkeit in Form von Farben könnten wir auch jetzt ertragen. Kleine Farbkleckser würden unsere Gunst umwerben. Einmal darauf aufmerksam gemacht, würden wir uns Gedanken machen: Modebewusste würden sich fragen, welche Farben in den Winter passen. Scheue würden auf die Bunten gucken und sich wünschen, mehr Mut zu haben. Junge würden ausprobieren. Mal orange mit pink kombinieren. Guttun, davon bin ich überzeugt, würden uns die Farben in jedem Fall.

Die Textilfabriken könnten damit beginnen, Wintermäntel ausschliesslich in Regenbogenfarben herzustellen. Dann würde es aus den Schaufenstern lebensfroh lachen. Wir würden die farbenprächtigen Mäntel mit Stolz tragen, weil wir nicht mehr die einzigen wären. Und wir würden in derselben Farbnuance ein paar Dr. Martens erstehen. Danach kümmerten wir uns um die Farben der Jeans. Wie in den 2010er-Jahren würden sie in allen Farben verkauft. Dazu trügen wir erdbeerrote Pulis und fänden das zu Beginn ganz seltsam. Aber die Modedesigner würden reagieren und die wildesten Kreationen entwerfen. Sie würden Schwarz und Weiss verbannen und zu Colori non grati erklären.

Die Folgen wären wunderbar. Die Menschen würden an den Tramhaltestationen Feuerschalen aufstellen und am prasselnden Feuer Cervelat grillieren. In den Büros würden sie statt schwarzen Kaffee plötzlich grünen Sirup trinken. Die Patientenzahl bei Psychologen würde sinken und die Kosten für Psychopharmaka sowieso. Nach ein paar Jahren wäre es das normalste der Welt, dass man im Winter Farbe trägt.

Also lasst uns heute beginnen, lasst uns einen Gegenpol zur Kälte setzen und mit Farbtupfern die Nächte aufbrechen. Ich verrat euch eins, ich hab heute einen pinken Schal erstanden.

#acht
6/11/22 Ich dachte immer, Nebel sei konstant. Verhaftet. Schwer. Das stimmt so nicht.

Mein Bett steht neben dem Fenster. Als ich meine Augen heute Morgen zum ersten Mal öffnete, zählte ich an einem wolkenlosen Himmel vier oder fünf Kondensstreifen. Ich drehte mich noch einmal und döste wieder weg.

Irgendeinmal stand ich auf und machte mir einen Kaffee. Damit setzte ich mich an den Esstisch neben dem Fenster zur Markuskirche mit der Turmuhr, die mich für gewöhnlich über die Uhrzeit orientiert. Heute aber war sie verborgen in einer dichten Nebelsauce. In einer unglaublichen Geschwindigkeit war der Bodennebel in die Höhe geschossen.

Nebel ist Wandel. Ist Wandel Nebel?

#sieben
5/11/22 In den Bergen begegnete mir der Nebel in diesem Herbst öfter als im Mittelland. Das klingt widersprüchlich, ist aber so. Gerade heute wieder, als ich mit zwei Kolleginnen und einem Kollegen in der Bergwelt des Gantrisch die ersten Spuren des Winters erkundete. In der Nacht zuvor hatte es erstmals ausgiebig geschneit. Als wir beim Parkplatz Wasserscheidi unsere Bergschuhe schnürten und die Gamaschen über die Waden zogen, redeten wir über den Nebel. Wir wägten ab, wie hartnäckig er sein und ob er uns gefährlich würde.

Wenn das Weiss des Nebels mit dem Schnee verschmilz, wird es auf Bergtouren gefährlich, weil der Weg unsichtbar wird. Optische Wegmarken wie Bergwegzeichen, Steinmandli, Zaunpfosten, Pässe, Gipfel und auch die Sonne als Wegweiser für Himmelsrichtungen verschwinden. Man wird orientierungslos. Auch wenn man ein Gebiet gut kennt, kann man unbeabsichtigt auf einen Abgrund zuwandern. Die Absturzgefahr erhöht sich um ein Vielfaches. Wir beschlossen, nur so lange zu wandern, wie es uns geheuer ist und umzukehren, sollte es gefährlich werden. Der Wetterbericht machte uns Hoffnung. Der Nebel sollte sich im Verlauf des Tages lichten.

Die Schneedecke und der Nebel schluckten unser Gespräch, die Geräusche aus dem Wald und von der Strasse. Wir marschierten auf einem asphaltierten Strässchen los – wie die ganze Bergwelt vom Schnee verdeckt. Dann folgten wir Fusspuren, Bergwegzeichen und den Zaunpfosten entlang des Bergkamms zur Alp Obernünenen. Der Nebel schwebte wie ein statisches Element über der Landschaft, als ob er immer hier wohnen würde. Aber bald entdeckten wir im Nordosten die ersten grau-blauen Himmelfenster. Sie zogen in spielerischen Abständen vorbei.

Auf dem Leiterepass lichtete sich der Nebel zusehends. Eine Schönwetterstörung schien ihn zu verdrängen. Das neue Blau trieb den Nebel in Schwaden vor sich her. Wir wanderten vom Leiterepass der Gantrischflanke entlang zum Schibespitz, wo wir Mittagsrast machten. Dort blendete uns die Sonne. Die frühmorgendliche Sorge über die Nebelgefahr war einer sinnlichen Erfahrung gewichen. Nebelschwaden unter uns, Bergketten um uns herum, die nun endlich ihre ganze Gestalt zeigten. Sie erinnerten mich an Elefantenrücken, in Falten und vernarbt. Über ihnen funkelten Eiskristalle in der Luft. Wir atmeten tief, cremten unsere Gesichter ein und reckten sie zum Himmel.

 

#sechs
3/11/22 Ich bekomme Antworten: Der Nebel ist heute eine Glocke. Ihren Mittelpunkt hat sie über dem Berner Münster, wo sie an einem unsichtbaren Joch am Himmel hängt. Ihre Ränder sind uferlos, sie schwappen über die Stadt hinaus, bis dorthin, wohin meine Vorstellung reicht. Das schiere Grau hängt in weit über 4000 Meter Höhe. Nur östlich vom Schreckhorn leuchtet es kurz in goldenen Tönen, wo er sich lichtet weil die Sonne drängt. Ich frage mich, ob sich der Nebel wie in den vergangenen Tagen auflösen wird gegen Mittag oder Nachmittag. Es wird Abend, ohne dass sich die Glocke bewegt. Irgendwie steht sie heute als Symbol dafür, fleissig zu sein. Ich putze, schreibe E-Mails und buche Theatertickets.

Am frühen Abend dann regnet es Nebel. Er ist weder Schauer und noch Sprühregen. Die Tropfen fallen fast zufällig und subtil – flaumig, so dass das Haar beim Spazieren trocken bleibt, ausser die Strähnen, an denen ein paar Wassertropfen wie Galsperlen hängen bleiben.

Endlich mache ich Bekanntschaft mit dem Nebel. Er ist weder angsteinflössend noch grau.

 

#fünf
30/10/22 Es ist 8.23, die Uhren wurden in dieser Nacht um eine Stunde zurückgestellt, es ist Winterzeit. Gestern noch dämmerte es um diese Zeit, heute scheinen die Sonnenstrahlen bereits durch die Herbstblätter in mein Wohnzimmer. Der Kaffee duftet und ich frage mich, wann ich den nächsten Nebeltagebucheintrag schreiben kann. Ich meine einen echten Eintrag über das Wesen des Nebels. Ich möchte erfahren, wie er sich anfühlt. Ob er kalt oder nass ist. Ob er die Strassen in eine Eisbahn verwandelt. Ob er über die Landschaft schleicht oder sie unverrückbar in Besitzt nimmt. Ich möchte wissen, ob er am Boden klebt oder als Glocke über der Stadt hängt. Ich möchte erfahren, ob die Menschen ihm mit Trotz begegnen, sich an Nebeltagen bunter anziehen, fröhlicher lachen und sich Mut zusprechen im Tram. 

Bisher konnte ich von alledem nichts erfahren. Die Sonne scheint seit Tagen, in den Bergen wandert man im T-Shirt. In der Stadt reicht ein Wolljäckchen, wenn man shoppen geht. Die Meteorologen berichten darüber, dass der Oktober 2022 als einer der wärmsten in die Geschichte eingehen wird. Also warte ich auf den Nebel, um mich meiner Angst zu stellen, indem ich ihn erforsche und hoffe, dass er dadurch seinen Schrecken verliert. Wenn Nebel rückwärts gelesen wird, bedeuten die Buchstaben übrigens Leben. Das könnte ein Zeichen sein, dass ich mich mit ihm versöhnen werde.

 

#vier
08/10/22 Ich sitze in der SAC-Grubenberghütte, hoch über dem Mittelberg. Die Beine ruhen auf der Bank, warm und schwer. Wäre ich allein, würde ich aus dem Schlafraum eine Daunendecke holen. Ein Kissen würde ich als Rückenpolster benutzen, nur, um die Kälte der Holzlehne zu verjagen. Ich würde lesen, Kaffee trinken, dem Prasseln des Holzfeuers zuhören und den Geräuschen aus der Küche.

Vor dem Fenster ziehen Nebelschwaden vorbei. Wie in einem Film malen sie neue Bilder an die Leinwand. Die eben noch herbstlich leuchtenden Laubbäume an den Bergflanken verschwinden und zeigen sich doch bald standhaft wieder. Immer neue Hügelzüge gibt der Nebel frei. Einmal den Hundsrügg, dann das Relleri. Endlich auch einmal die Grossen im Hintergrund: Rüebli, Giferspitz und schliesslich für einen kurzen Moment das Wildhorn. Nur die Pleine Morte links davon bleibt verborgen. Für heute verloren.

Dass der Nebel da draussen patrouilliert, ist mir egal. Nein, das stimmt so nicht. Es ist mir nicht egal, es ist mir recht. Ich mag heute keinen Heldentaten vollbringen, auf keinen Gipfel steigen. Ich möchte nichts anderes als hier sitzen bleiben und dem Nebel zusehen. Er führt ein Eigenleben, formiert sich, löst sich wieder auf. Wie ein eigener Organismus bewegt er sich. Als nähre er sich an der Landschaft, bilde sich aus dem Herbstgras und aus den Fliegenpilzen, die in Scharen spriessen. Als wachse er aus den Blüten der Fichtenwäldern. Als trage ihn der Wind mit wie die Fichtenpollen im Frühling gelb durch die Landschaft schwadronieren, um die Blüten zu bestäuben. Heute aber sind es Wassertropfen so leicht, dass sie mit dem Wind mitfliegen. Sie gehen mit dem Wind. Der Wind geht mit ihnen. Wie in einer baumwollgleichen Wolke beschützt der Nebel die Hiergebliebenen vor Alltagsrauschen, Gewohnheitsgedanken und Schlagzeilen, die selten die Stimmung heben.

In alle den Jahren, in denen ich im Saanenland lebte, wo die Sonne fast immer schien, vergessen, dass Nebel eine reinigende Kraft in sich trägt. Dass seine weichen Ränder alles Unerträgliche und Unumstössliche aufsaugen. Die Menschen werden frei. Frei in den Gedanken. Und sie werden still – getragen im Nebel.

 

#drei
7/10/22 nebel rauschen
                  Nebel rauschen überfliesst die einen mit
               Einsamkeit die anderen aber
            Beseelt es wie
               Ein hauch
                  Lebendig gewordener träume

 

#zwei
3/10/22 Seit ich mich auf das Tagebuch eingelassen habe, warte ich sehnsüchtig auf Nebel. Morgens spring ich aus dem Bett und renne zum Fenster, um zu sehen, in welcher Form er sich zeigt. Ob er dicht, schwer oder kalt den Garten einhüllt.

Aber ich werde enttäuscht, ein ums andere Mal drängt das Morgenrot zwischen dem Kirchturm und der Häuserreihe durch. Die Schwaden formiert sich wohl im Verborgenen, um dann, wenn die Zeit gekommen ist, nicht nur den Garten, sondern uns alle in Besitz zu nehmen.

 

#eins
30/9/22 Heute fliesst der Nebel zum ersten Mal in meinen Garten. Er betastet einige belaubten Äste und die Grashalme, befühlt Schlupfwinkel und Rindenrisse. Nur zaghaft, wie mit dem Auftrag, die Landschaft und Formen zu vermessen, die er alsbald ummanteln wird.