You are currently viewing Ein Taubenpaar und ein Gewitter

Im Baum nistete ein Taubenpaar. Ich entdeckte es beim Abendessen, von seiner Geschäftigkeit in der Baumkrone neben meinem Balkon aufmerksam geworden. Ich sah zuerst eine einzelne Taube, sie hüpfte von einem Ast auf den anderen und flog weg, kam zurück und flog wieder weg. Das Geräusch der schweren Flügelschläge begleiteten mich bis in die Nacht.

Dass da noch eine zweite Taube war, sah ich erst am nächsten Morgen. Sie sass auf ein paar dürren Zweigen, die seltsam dünn auf einer Astgabel lagen. Viel zu fragil für ein Nest. Ich fragte mich, was die Tauben da wohl machten, für die Brut war es sicherlich zu spät, denn es war September geworden. Erst nachdem ich ein findiges online Portal konsultiert hatte, nahm ich an, dass es doch brütete, es musste sich um die Winterbrut handeln, die dritte im Jahr.

Eine Taube brachte Zweige, die andere flocht sie zu einem veritablen Nest zusammen. Einmal verliess sie kurz das Nest und betrachtete es aus der Ferne, wie um als Baumeisterin einen Augenschein von aussen zu nehmen und die weiteren Arbeiten zu planen. In diesem kurzen Moment spähte ich angestrengt durch die Zweige. Mich dünkte, da liege ein Ei.

In den folgenden Tagen liess die Geschäftigkeit nach. Ich besuchte das Taubenpaar jeden Morgen vor der ersten Tasse Kaffee und sprach mit ihm. Ich versuchte zu erkennen, ob das Männchen oder das Weibchen brütete, denn laut Lexikon teilen sich die Tauben die Arbeit. Ich kam nicht dahinter. Ich vermochte die beiden nicht auseinanderhalten.

Letzte Nacht zog ein heftiges Gewitter über uns hinweg. Die Wohnung wurde vom Blitz taghelle. Es goss wie aus Kübeln. Und heute Morgen war es seltsam still. Sofort ging ich raus, suchte nach dem Taubenpaar und nach dem Nest. Aber sie waren fort.

Ich suchte die Umgebung ab. Auf der Hecke im Garten zwei Stockwerke unter mir erspähte ich schliesslich einen Asthaufen. Sofort rannte ich hinunter und fand doch nur ein durchnässtes Häufchen Zweige. Im Gras daneben leuchteten zwei zerbrochene Eierschalen, pflaumengross. Sie waren leergewaschen. Nur vom Vogelpaar fehlt seither jede Spur und ich frage mich, ob es wie ich leise trauert oder in einem anderen Baum Zweige stapelt.